Phlegma

(Eine Verbeugung vor Fernando Pessoa)

Ich liege in meinem Bett. Die Tapete träufelt mir ihr bedeutungsloses Weiß in die Augen. Ich hasse dieses Weiß, weil ich es kenne. Weil ich es zu lange kenne und es sich nicht verändert. Ich bin zu müde, um müde zu sein. Der eigenen Müdigkeit überdrüssig. Der Überdruss wird zu Ekel vor all den Dingen, die ich kenne. Die sich nicht verändern wollen. Meine Getriebenheit, mein Wunsch nach Veränderung ekeln mich. „Sei doch zufrieden!“ Ich brenne mir das Mantra in meine Gehirnwindungen und verzweifle am monotonen Widerhall dieses dilettantischen Versuchs mir Glücksempfinden zu befehlen. Auch das Wort Zufriedenheit erfüllt mich mit Ekel. Es klingt wie ein toter, nasser Waschlappen. Immer diese dumpfe Rastlosigkeit. Eine Sehnsucht, die kein Ziel kennt. Die Unerfülltheit macht mich krank und ich verträume mich im Wunsch nach Ruhe. Suhle mich in der Gewissheit, dass es für alles ein Ende geben wird. Das zweite Dilemma, dass in diesem Moment jedoch nach Freiheit schmeckt. Auch meine Unerfülltheit wird sich eines Tages erschöpfen. Doch auch dieser Gedanke ekelt mich. Diese dekadente Todessehnsucht eines Privilegierten einer Wohlstandsgesellschaft. Eine vollgefressene Made, der schlecht von ihrer Unersättlichkeit geworden ist. Dennoch frisst sie weiter und erstickt an ihrer Gefräßigkeit. Doch das Leben verbraucht sich. Hier und überall. Das ist auch eine Tatsache. Es entsteht aus dem Nichts, wächst, kulminiert und schrumpft schließlich wieder zu einem Nichts. Und ich merke wie ich mich verbraucht habe, wie ich diesen einen, unnennbaren Zenit überschritten habe und nichts mehr umzukehren ist. Ich schrumpfe, schwinde. Vorher war alles möglich… doch jetzt ist nachher.

 

Das Leben ist unvollkommen. Deshalb kann ich es nicht ernst nehmen. Es ist ein dilettantischer Versuch. Ungläubig starre ich auf all die Dinge, die ich nicht getan habe, auf alles, was ich verpasst und nicht gelebt habe. Auf alles, was ich hätte tun sollen als die Zeit dafür war. Es sind Blicke, auf die ich keine Worte habe folgen lassen. Es ist die Zeit mit Menschen mit denen ich auf der Autobahn Richtung „Zukunft“ gefahren bin, bevor sie die Ausfahrt „andere Zukunft“ oder „keine Zukunft“ genommen haben. Es sind Gedanken, die im Sumpf der Ideen ertrunken sind, ohne gelebt zu werden. Schließlich ist das Leben eine Skizze von etwas Unperfektem. Das ist eine doppelte Unvollkommenheit. Keine Linie wurde zu Ende geführt. Und alles wurde nur mit der Polaroid meiner Wahrnehmung festgehalten. Ich kann meine Vergangenheit nicht mehr bearbeiten. Der imperialistische Imperativ der Jugend ist in irgendeiner schmuddeligen Ecke als Konjunktiv verendet. Und ich weiß wie wenig Sinn es macht Konjunktiven nachzutrauern. Konjunktive sind zum Scheitern verurteilte Ideen. Totgeburten. Der Weg, den man gegangen ist, ist immer der Beste aller Möglichen. Und so denke ich an alles, das ich erleben durfte. Alles was Macht meines Wirkens zur Realität geworden ist. Und dann die Einsicht, dass diese Momente Vergangenheit sind, nur Kraft meiner Erinnerung existieren. Ein fragiles Gebilde, mehr eine vom Wind geformte Wolke, die von einem Kind Bezeichnung erfährt und im nächsten Moment und im Auge aller Anderen nichts anderes ist als ein Aggregatzustand des Wassers. Die Vergänglichkeit drückt so schwer, dass ich sie überwunden haben will. Dass ich den Prozess der Vergänglichkeit überwunden haben will.

 

Schweiß drückt aus meinen Poren. Er ist kalt und nass. Er kommt in stoßartigen Wellen und ich merke, dass es ein Aufbäumen meines Körpers gegen meine Gedanken ist. Mein Körper kämpft gegen meine Gedanken. Er kann meine Lebensmüdigkeit nicht akzeptieren. Er sträubt sich.

 

Dennoch entdöse ich diesem Gedankenkarussell. Vielleicht für ein paar Minuten. Vielleicht für ein paar Stunden. Ich weiß es nicht. Im Land der Träume ist das strenge Regiment der Zeit ein gescheiterter Witz. Keiner nimmt die Regierung ernst. In der Realität ist sie eine unbarmherzige Diktatorin. Ich erwache ruckartig. Mein Herzschlag hat mich geweckt. Ein mechanisches Stoßen und Hämmern, das meinen Brustkorb bearbeitet und mich überrascht. Die Schläge fühlen sich fremd an. Ein fremder Motor in einer fremden Maschine. Ich kann nicht unterscheiden, ob mich das Hämmern meines Herzens oder die Fremdheit meines Körpers schmerzt. Doch ich merke wie mir der Körper abhandenkommt, wie ich die Kontrolle über ihn verliere, mein Geist sich von ihm entfernt und er zurückbleibt, vielleicht nicht mehr atmet, wenn ich es vergesse ihm zu befehlen. Und Panik überkommt mich. Angst, dass diese Maschine den Geist aufgibt. Wortwörtlich. Meinen Geist aufgibt. Und die Welt, wie ich sie wahrnehme nicht mehr existiert. Ausgelöscht. Schließlich habe ich so lange gebraucht, um mich mit diesem Leben einigermaßen zu identifizieren. Ihm eine Identität zu geben, ihm Integrität zu verleihen. All die Momente zu verlieren, die trotz jeder Wahrscheinlichkeit Realität zu werden, nicht mehr im Raum des Möglichen stehen würden. Ich verstehe, erst die Möglichkeit ermöglicht mir die Möglichkeit zu leben, auch wenn alles tatsächlich Geschehene die Dinge nimmt, die an dessen statt hätten passieren können. Die Möglichkeit für ein Vielleicht. Und nun: Trotz allem erkenne ich mich nun nur als ein Geschöpf, das Todesangst erfährt. Ein Geschöpf, das nicht sterben will. Ein langer Prozess bis ich es schaffe meinen Körper zu überzeugen, dass in mir Wille zum Leben ist. Mürrisch beruhigt er sich, reduziert seine Schweiß- und Herzschlagattacken und lässt mich endlich schlafen.

 

Und dann der nächste Morgen. Noch im Bett spüre ich meine Vitalität, strecke meine geistigen Fühler nach all meinen Sehnsüchten. Sie erregen mich, sublimieren sich und machen mich gierig dem neuen Tag entgegenzutreten. Mein Prometheus erwacht, möchte schaffen, immerzu erschaffen, Sehnsüchte stillen, die sich formieren, größer und wahnwitzig in mir zu Luftschlössern heranreifen, die auf ihren Architekten warten. Ich bin berauscht von meiner Fähigkeit zu illusionieren, berauscht von meinem Größenwahn.

 

Ein irrsinniges Spiel, dass sich wiederholt. Abend für Abend. Wenn ich unter die weichen Laken krieche, um mich der einlullenden Umarmung des Todesbruders hinzugeben. Der Tanz zwischen dem Wunsch nach und all der Angst vor dem Tod. Dem, für den die Worte fehlen. Weil die, die ihm begegnet sind, keine Worte mehr haben und uns nichts über ihn berichten können.

 

Und was berichten wir vom Leben? Unbestimmtheiten. Ein Nebel aus vielen Worten. Zu unzusammenhängend, um von unserem tatsächlichen Empfinden zu berichten.

 

(2017)